Wenn ich an Oji (王子) denke, kann ich nicht anders, als mich von der Nostalgie der Landschaft überwältigt zu fühlen. In dieser Gegend verbrachte ich meine ersten fünf Monate nach meinem Umzug nach Tokio (東京) und sammelte so meine ersten Erfahrungen mit der Erkundung einer Gegend innerhalb dieser Metropolregion. Denn in den vergangenen Jahren bestanden meine Tokio-Besuche, obwohl sie Spaß gemacht hatten, hauptsächlich aus eiligen Marathons zwischen berühmten Geschäftsvierteln und touristischen Regionen.
Es war also mein Wunsch, das Leben als Bewohner dieser Großstadt zu erleben, der mich nach Japan brachte. Laut der Internet-Touristen-Sphäre war Oji das Zentrum dieser pulsierenden Stadt. Und so wurde Oji ein Teil meines Alltags – ich erkundete lokale Geschäfte, Handwerksmärkte, versteckte Restaurants und unternahm Radtouren durch die Nachbarschaft. Es fühlte sich so an, als gäbe es kein Leben jenseits des Nordens von Ikebukuro (池袋).
Der Garten in dem Ost auf West trifft
Nachdem ich ein Mamachari (ママチャリ, der japanische Spitzname für die günstigen Fahrräder, mit denen sich viele in der Stadt fortbewegen) erworben hatte, wählte ich die wunderschönen Kyu-Furukawa-Gärten (旧古河庭園) als eines meiner ersten Ausflugsziele in der Region aus. Der Eintritt kostet hier 150 Yen (oder 400 Yen für ein Kombi-Ticket mit den Rikugien-Gärten). Das Gebiet war einst die ehemalige Residenz der Familie Furukawa, eine der bekanntesten Familien seit der Meiji-Ära und Gründer einer der wichtigsten Industriegruppen von heute.
Das erste, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war das monumentale Herrenhaus im englischen Stil neben dem Rosengarten im französischen Stil. Als ich mich in den kleinen Pavillon setzte, um mich zu entspannen und die Aussicht zu genießen, wurde ich für einen Moment in das Japan der Jahrhundertwende zurückversetzt.
Ich stellte mir vor der englische Architekt Josiah Conder zu sein, dem Schöpfer des Komplexes. Er galt als einer der Väter der modernen japanischen Architektur und so versuchte ich mir vorzustellen, wie es angesichts des kulturellen Aufschwungs der Modernisierung Japans und der Übernahme vieler westlicher Facetten gewesen sein musste.
Von dem Herrenhaus aus ging ich eine schmale Treppe hinunter und betrat eine komplett andere Welt. Das empfindliche Gleichgewicht zwischen beiden Umgebungen wurde kristallklar. Die geometrische Präzision des Rosengartens stand in starkem Kontrast zu den geschwungenen und asymmetrischen Formen des japanischen Gartens. Der Garten ist eine Kreation von Niwashi Ueji, einem Meister der Gartengestaltung aus Kyoto und ein Meister der Harmonie für (Un-) Perfektion.
Nostalgie in einem traditionellen Süßwarengeschäft
Nachdem ich die Gärten verlassen hatte, machte ich mich auf den Weg entlang der Hongo Dori Avenue (本郷通り) in Richtung Nordwesten. Unterwegs stieß ich auf Hiratsuka Tei (平塚亭), ein kleines traditionelles Süßwarengeschäft, das 1933 gegründet wurde. Seine Popularität ist auf seinen nostalgischen Stil und sein häufiges Auftreten in der Romanreihe „Mitsuhiko Asami“ zurückzuführen (später angepasst an ein TV-Drama). Seine Hauptfigur, ein Detektiv, ist ein in der Nachbarschaft ansässiger und regelmäßiger Kunde. Das Geschäft ist der perfekte Zwischenstopp, um Süßigkeiten zu kaufen, bevor ihr weiter die Straße hinunter zum Asukayama Park geht, wo Einheimsche und Besucher gleichermaßen Picknicks genießen können.
Asukayama: Einer der ersten Parks in Oji, Tokio
Der Asukayama Park (飛鳥山公園, Asukayama Kōen) ist aus historischen und ästhetischen Gründen einer der bekanntesten Orte in Oji. Er erschien unten den „100 berühmtesten Edo-Ansichten“, als Shogun Yoshimune Tokugawa (将軍徳川吉宗) im Jahr 1720 den Anbau von 1.270 Kirschbäumen anordnete. Der Park wurde während der Hanami-Saison unter den Edo-Einwohnern schnell zu einem obligatorischen Ausflugsziel. Obwohl heute nur noch die Hälfte der ursprünglichen Anzahl von Kirschbäumen existiert, ist er immer noch einer der beliebtesten Ausflugspunkte für die Kirschblüte in Tokio. Im Sommer ist der Asukayama Park ein gut besuchter Ort für Hortensienliebhaber. Während der Hochsaison versammeln sich viele Besucher, um die berühmten Sommerblumen zu genießen, die entlang des schmalen Weges zwischen Park und Bahngleisen wachsen.
Hier noch eine kleine Zusatzinfo: Zwischen 1970 und 1993 gab es ein 40 Meter hohes, sich drehendes Café namens Sky Lounge. Im Volksmund auch als Asukayama Tower bekannt, konnten die Besucher Kaffee und Tee und dabei den Panoramablick auf den Park genießen. Es ist nicht verwunderlich, dass dies eines der Highlights in der Region war. Im Jahr 1993 führten der Verfall der Infrastruktur und neue Gebäude in der Region zum Abriss des Bauwerks.
Am nordwestlichen Ende des Parks befindet sich eine kostenlose Mini-Einschienenbahn. Sie ist perfekt für diejenigen, die die steilen Treppen zwischen Park und Straße vermeiden möchten. Darüber hinaus befindet sich hier auch die nächstgelegene Route zur Straßenbahnlinie Toden-Arakawa und zur Oji Station, entweder von der Namboku-Linie (Tokyo Metro) oder der Keihin-Tohoku-Linie (JR) aus.
Nachdem Überqueren der Hongo Dori, nur wenige Meter vom Park entfernt, sollte ich zu meiner absoluten Lieblingsecke gelangen.
Der stille Wasserpark und der überlebende Ginkgo
Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich anfangen soll, die Empfindungen zu erklären, die mich überkommen, wenn ich an diesen kleinen Ort von einzigartiger und melancholischer Schönheit denke. Der Otonashi Shinsui Park (音無親水公園, Otonashi Shinsui Kōen) bedeutet „stiller Wasserpark“. Das ganze Ausmaß des Parks bedeutet für mich bereits mehr als die einzelnen Teile.
Der Otonashi Shinsui Park war ursprünglich der Punkt, an dem der Shakujii-Fluss (石神井川, Shakujii-Gawa) in den Sumida-Fluss (隅田川, Sumida-Gawa) mündete. Während der Städtebildung in der Nachkriegszeit wurde der Ort so kontaminiert, dass die Behörden keine andere Möglichkeit sahen, als alles buchstäblich „unter den Teppich zu kehren“. Unter Asukayama wurden unterirdische Pipelines verlegt, um den verschmutzten Fluss umzuleiten und den Park so wasserlos zu machen.
Unter den Brücken bleibt nunmehr nichts weiter, außer die im Chaos organisierten Steine. Für mich sieht diese Landschaft wie etwas aus, das direkt aus einem surrealistischen Gemälde stammt. Nur an Regentagen rieselt das Wasser durch den Park und erinnert uns an die Opfer zum Preis der Städtebildung der Nachkriegszeit.
Auch der Kontrast des Parks mit dem prächtigen Ginkgo (銀杏, ichou), der als Begleiter des Parks dient, bleibt mir in Erinnerung. In über 600 Jahren hat er die Meiji-Restauration und zwei Weltkriege miterlebt. Und dennoch bleibt er unerschrocken und sieht sich den täglichen Massen von Arbeitern und Schülern sowie Studenten gegenüber, die jeden Tag kommen und gehen und an ihm vorbeiziehen.
Ougiya: Ein 300 Jahre alter Tamagoyaki-Omelettladen
In der Nähe befindet sich der 300 Jahre alte Ougiya (扇屋), ein bescheidener und fast versteckter Tamagoyaki-Stand (卵焼き, ein süßliches Omelett). Das Ewige und Vergängliche wurden eins, als ich hier saß und mein köstliches Omelett genoss und beobachtete, wie Menschen an den stillen Steinen vorbeikamen.
Der Omelettladen wurde 1648 gegründet und inspirierte eine bekannte Rakugo-Geschichte (落語, eine Art klassisches Theater, das aus Comedy-Monologen besteht) mit dem Titel „Der Fuchs von Oji“ (王子の狐, Ouji no kitsune). In der Geschichte geht es um einen Mann, der einen Fuchs betrügt, um das Restaurant zu betreten.
In seiner Blütezeit war Ougiya ein mehrstöckiges Restaurant am selben Ort. Leider entschieden die Besitzer das Restaurant 2008 zu schließen und die Erinnerungen an das Ougiya mit einem kleinen Stand am Leben zu erhalten.
Der Tempel mit über tausend Jahren an Geschichte
Als ich die Treppe zum Ginkgobaum hinaufging, befand ich mich vor dem Oji-Schrein (王子神社, Oji Jinja), einem der zehn Hauptschreine Tokios und einem der ältesten. Das genaue Gründungsjahr des Schreins ist unbekannt, wird jedoch auf etwa 1053 bis 1065 geschätzt. Seine Anhänger beten hier für den Schutz vor Naturkatastrophen und für sichere Schwangerschaften.
Etwas weiter nordwestlich befindet sich das andere Gesicht dieses heiligen Gebiets und Symbol der Nachbarschaft. Der Oji Inari-Schrein (王子稲荷神社, Oji Inari Jinja) ist Inari gewidmet, der berühmten Fuchsgottheit und Beschützerin des Glücks, der Ernte, des Geschäfts und der Industrie. Das genaue Gründungsjahr ist ebenfalls unbekannt, dennoch gilt der Schrein seit der Edo-Zeit als eines der wichtigsten Heiligtümer in der Kanto Region.
In den letzten Jahren erfreute sich der Oji Inari-Schrein dank der Feier der Fuchs-Parade (狐の行列, Kitsune no Gyōretsu) einer erneuten Beliebtheit. Diese relativ junge Tradition wurde ins Leben gerufen, nachdem mehrere berühmte Legenden von Füchsen aus der Region Kanto berichteten, die sich an Silvester versammelten und die Einheimischen dazu inspirierten, die Parade zu veranstalten.
Nanushinotaki Park: Eine üppige Oase in der Großstadt
Als nächstes besuchte ich den Nanushinotaki Park (名主の滝公園, Nanushinotaki Kōen), ein Ort, der es mit seiner Magie schaffte, mich zu überzeugen, dass ich mich an einem abgelegenen Ort in der Natur befinden würde.
Mit dem entspannenden Klang des Wasserfalls im Hintergrund träumte ich davon, mich im heiligen Wald von Prinzessin Mononoke (einem Studio Ghibli-Film) zu befinden. Ich hatte jeden Moment das Gefühl, von einem Kodama überrascht zu werden, dem kleinen Waldgeist, der in der japanischen Folklore vorkommt.
Ganz in der Nähe befindet sich eines meiner Lieblingsgeschäfte in der Gegend. Das Ishinabe Kuzumochi (石鍋久寿餅) hat eine über 130-jährige Geschichte und stellt seit der Meiji-Ära Süßigkeiten mit denselben Techniken her.
Ein kleines, aber wirklich schönes Detail, das von Herzen kommt, ist das Design der Papiertüten des Geschäfts: eine altmodische Nachbarschaftskarte! Diese clevere Werbetaktik würdigt auch das Gebiet mit seiner reichen Geschichte.
Delikatessen in großer Höhe und der Panoramablick bei Hokutopia
Okay, bisher habe ich nur über Süßigkeiten gesprochen. Also ist es nun an der Zeit, meinen Lieblingsort für ein schönes Mittag- oder Abendessen zu empfehlen. Ganz in der Nähe des Bahnhofs Oji stieß ich auf Hokutopia (北とぴあ), ein Mehrzweckgebäude mit einem Konzertsaal, einem Konferenzraum, einem Planetarium und einer kostenlosen Aussichtsplattform im 17. Stock.
Von hier aus konnte ich den Panoramablick auf die Gegend genießen, insbesondere auf den Asukayama Park.
Auf dieser Etage befindet sich ebenfalls ein traditionelles japanisches Restaurant namens Sankaitei (山海亭). Es kann zwar nicht auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken, aber seine außergewöhnliche Lage und das gute Preis-Leistungs-Verhältnis sind Grund genug, es für einem obligatorischen Besuch auf die Liste zu setzen.
Ein Geschäft zu Ehren der Fuchs-Gottheit und des Schreins
Ein paar Straßen weiter entfernt fand ich ein Geschäft, das meiner Meinung nach die gesamte Nachbarschaftsatmosphäre zusammenfasste. Das Yamawa (ヤマワ陶器) ist ein Keramik- und Haushaltswarengeschäft mit einer großen Sammlung von Fuchsmasken. Es gibt auch eine große Vielfalt von verschiedenen Gegenständen, auf denen Darstellungen der verehrten Inari-Gottheit abgebildet sind. Es sind auch einige Gashapon Automaten (kleine Sammlerstücke aus Verkaufsautomaten, die normalerweise zwischen 300 Yen und 500 Yen kosten) ausgestellt, die das gleiche Thema wieder auffassen.
Auf der anderen Seite von Yamawa befindet sich ein malerischer Mini-Schrein des Shōzoku Inari Schreins (装束稲荷神社). Der Legende nach gab es einen Enoki-Baum, in dem sich die Kanto Füchse versammelten, um sich vor der Parade als Menschen zu verkleiden.
Für diejenigen, die nach dieser Tour noch immer voller Energie sind, würde ich empfehlen, das lebhafte Izakaya-Ambiente im nahe gelegenen Viertel Akabane zu besuchen.
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nun alles abgedeckt habe, was Oji zu bieten hat. Ich habe über Orte gesprochen, von denen ich glaube, dass sie in Oji unbedingt besucht werden müssen, und ich hoffe, dass ich andere dazu motivieren konnte, ihre eigenen Entdeckungen in der Region zu machen. Der Norden Tokios bewahrt immer noch den Charme der Nachbarschaft, der dem Massentourismus nicht erlegen ist. Hier wird denjenigen ein einzigartiges Erlebnis geboten, die ein originelleres und authentischeres Tokio kennenlernen möchten. Und meiner Meinung nach ist Oji ein wunderbarer Ort, um dies zu tun.
Anfahrt nach Oji
Wie der Name schon sagt, ist der nächstgelegene Bahnhof die Oji Station (王子駅), die von der JR Keihin-Tohoku Linie oder der Tokyo Metro Namboku Linie angefahren wird. Es ist auch möglich, die Straßenbahnhaltestelle Oji Ekimae von der Toden-Arakawa Linie aus zu erreichen.
Übersetzung von Yvonne.