Es ist Winter in Hokkaido. Der Anblick des Schnees stimmt mich traurig. Als ich meine Schneeschuhe anlege und den gesperrten Bergweg hinaufsteige, fallen mir Büschel von Sasa-Bambus auf, die aus dem windgepeitschten Boden ragen.
Hokkaido zählt zu den schönsten Winterparadiesen der Erde, doch die Erwärmung der Region bringt Unruhe in die puderzuckerweise Geschichte der Insel. Hoch oben auf dem Berg Mokoto, über dem kristallklaren Blau des Kussharo-Sees, erzählen grün-gelbe Flecken im weißen Schnee von den Veränderungen der Welt.
„Ich bin froh, dass ich in einer Zukunft ohne Wildnis nicht jung sein werde“, schrieb der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Aldo Leopold einst. Heute fürchte ich ein Hokkaido, in dem die Sasa bis weit in den Januar hinein wächst.
Berg Mokoto
NATURAL FEATURE- Mt. Mokoto, Furuume, Bihoro, Abashiri District, Hokkaido 092-0022, Japan
- ★★★★☆
Kussharo-See
NATURAL FEATURE- Lake Kussharo, Teshikaga, Kawakami District, Hokkaido, Japan
- ★★★★☆
Meine Begleiter und ich stapfen langsam am Rand einer gesperrten Winterstraße zum Ausgangspunkt des Wanderwegs. Wir folgen den Spuren vorheriger Wanderer und verlassen uns, vielleicht etwas blind, auf deren Erfahrung, um uns im Wind zurechtzufinden, der Frostwirbel aufwirbelt. Die heutige Wanderung ist nicht lang, drei Stunden hin und zurück, und auch nicht steil. Sie führt nur knappe 300 Meter hinauf in den bewölkten Himmel.
Trotzdem ist die Wanderung mythisch, denn sie folgt einer uralten Narbe, wo einst ein Berg von ähnlicher Größe wie der Fuji stand. Vor 30.000 Jahren tobten Urkriege unter der Erde und zogen den aufragenden Berg zurück in seine Tiefen. Die Menschheit war damals jung, ohne gemeinsames Ziel, auf der Suche nach ihrem Platz in dieser verheerenden Landschaft. Heute wandern sie unter den Sasa, bestrebt, dieses Land vor sich selbst zu schützen.
Wir steigen im Schnee empor, immer höher in den Himmel, stemmen uns mit unseren Stöcken gegen den harten Schnee, um Halt zu finden, während wir uns unter den vereisten Bäumen hindurchducken. Die Wolken verdecken den Blick auf den See, doch hinter uns, wenn auch nur für einen Augenblick, können wir die Shiretoko-Halbinsel bewundern, die sich neben dem ruhigen, blauen Meer erstreckt.
Shiretoko-Halbinsel
NATURAL FEATURE- Shiretoko Peninsula, Onnebetsumura, Shari, Shari District, Hokkaido 099-4356, Japan
- ★★★★☆
Nach einiger Anstrengung erreichen wir die Höhe. Zu unserer Linken fällt der Abgrund in graue Leere ab. Zu unserer Rechten säumen gefrorene, schneebedeckte Bäume das Gelände. Über uns, in Wolken gehüllt, kommt uns ein Fremder entgegen. Der Wind pfeift heftig, doch leise hallt der Klang einer Glocke wider.
Der Fremde kommt näher. Ich erkenne ihn als Freund, er begrüßt uns freudig auf Englisch und teilt uns mit, dass wir dem Gipfel nahe sind. „Hinter den grauen Felsen, das Seil hochklettern, dann noch 15 Minuten.“ Lächelnde, erstarrte Gesichter verabschieden sich ein letztes Mal, und wir gehen weiter.
Endlich erreichen wir die Felsen, einen zerklüfteten Felsvorsprung, der den Pfadrand teilt. Ein Mahnmal für die Gewalt der Erde, seit jeher stumm. Ein kurzes, technisch anspruchsvolles Stück führt uns durch diese Unebenheit. Der Pfad fällt dann wieder ab, verläuft eine Weile geradeaus und steigt dann erneut an, wobei der Gipfel irgendwo in der Tiefe verborgen bleibt.
Fatbike-Tour am Ochotskischen Meer
Eisperlen bedecken die Strände von Tokoro, hoch aufgetürmt von den schäumenden Wellen des Ochotskischen Meeres. Sie glitzern und schimmern in den Strahlen der Wintersonne, Diamanten zwischen Treibholz und längst vergessenen Überresten von Fischernetzen. Mit jedem Schlag der Wellen gegen die Betonfelsen spülen sie weitere Eisbrocken an. Ein Vorbote des berüchtigten Treibeises, das in Kürze die Meere in eine weiße Decke hüllen wird.
Das Treibeis, ein Produkt von Süßwasser, das im hohen Norden ins Meer strömt, treibt langsam heran. Angetrieben von Wind und Wellen. Heute ist die See klar, und die Ankunft des Treibeises verzögert sich aufgrund anhaltender Hitze und starker Dünung.
Unsere Gruppe kommt zwar enttäuscht über das schneefreie Meer an, freut sich aber darauf, eine der neuesten Winterattraktionen Kitamis zu erleben. Radfahren ist in Japan weit verbreitet, doch in Hokkaido ist diese alltägliche Aktivität den Großteil des Jahres unmöglich. Um dem entgegenzuwirken, investieren die Einheimischen in sogenannte „Fatbikes“ mit robusten Reifen, die sich perfekt für den Pulverschnee Hokkaidos eignen.
Wir rasen die Küste entlang, jeder Tritt in die Pedale bringt das Rad auf Touren. Doch das ist keine leichte Aufgabe, denn der nasse Sand ist eine perfekte Falle, Schwung ist unerlässlich. Die Wellen türmen sich auf und spritzen gegen meine Reifen, feine Gischtflossen erinnern mich an das mächtige Meer zu meiner Rechten.
Nach einer Weile machen wir am Strand Halt und lassen unsere Fahrräder in einiger Entfernung von den Wellen stehen. Der Wind weht schwach und flüsternd, Vögel fliegen hoch über uns und scheinen sich in seiner Kraft zu wiegen.
Wir teilen unser Brot, oder in diesem Fall Schokoladenstückchen und Kaffee, die notwendige Stärkung nach einigen hundert Metern kräftezehrender Radtour. Das sogenannte Dracheneis ist reichlich vorhanden und nimmt beim Schmelzen und Wiedergefrieren außerirdische Formen an.
Bald wird sich die Landschaft wandeln, die Wellen werden unter der drückenden Last des Eises verstummen. Vögel werden sich vermehren, furchterregende Adler werden Wache halten und darauf warten, dass jene unterhalb ihrer ritterlichen Rangordnung sie für die Rückkehr in den fernen Norden rüsten.
Es ist das späteste Auftreten von Eis seit Langem, ein deutliches Zeichen für die Erwärmung dieses lebenswichtigen Meeres. Wie lange dieser Schatz bestehen bleibt, ist ungewiss. Vielleicht schmilzt er so langsam dahin, wie er über das Meer kriecht, oder verschwindet mit derselben Magie, mit der er sich zeigt. Daher versuche ich diesen Moment im Hier und Jetzt zu genießen.
Eisgrillfest und Schneeballschlacht-Turnier in Kitami
Die Luft ist kalt und schneidet mir ins Gesicht, als ich das Festgelände betrete. Trotz der Kälte haben sich heute Abend Hunderte fröhlich in der Nähe des Bahnhofs versammelt. Seit 26 Jahren kommen die Menschen hierher, drängen sich mit unzähligen Handwärmern um kleine Steingrills, um die beiden Dinge zu genießen, für die Kitami am bekanntesten ist: gutes Fleisch und die bittere Kälte.
Bekannt als Genkan Yakiniku Matsuri, das Festival des extrem kalten Yakinikus. Dieses unbestreitbar lokale Ereignis schöpft nicht aus dem reichen Fundus der japanischen Geschichte, sondern greift auf überstrapazierte und veraltete Themen zurück, um Aufmerksamkeit zu erregen. Mit einem Augenzwinkern und einer gewissen Kälte geht es heute Abend nur darum, gutes Essen in guter Gesellschaft zu genießen.
Kitami Station
TRAIN STATION- 1 Chome Odorinishi, Kitami, Hokkaido 090-0040, Japan
- ★★★☆☆
„Alle, haltet bis zum Schluss durch!“, ruft der Moderator der Veranstaltung. Sein Atem ist im Wind frostig. Er hebt seine unbedeckte Hand, die ein Bier umklammert hält, hoch in die Luft und ruft laut „Kanpai!“, woraufhin alle einstimmen. Einige Feiernde treiben es mit ihrer festlichen Kleidung auf die Spitze: Sie setzen grüne, flauschige Hüte auf, schwenken Fahnen und brüllen ein kräftiges „Kanpai!“ zurück.
Das Surren der Laubbläser hallt hinter dem Jubel der Anwesenden wider, Funken sprühen durch die Luft und verschwinden in der schwarzen Nacht, während pflichtbewusste Köhler sich abmühen, die kleinen Steinöfen zwischen den Bänken am Brennen zu halten und die Bäuche der Gäste zu füllen.
Das heutige Fest markiert den ersten von drei Tagen des Kitami-Winterfestivals. Zu den Höhepunkten morgen gehören eine Eisbar, ein Lagerfeuer mit gerösteten Marshmallows und vor allem ein Schneeballschlacht-Turnier.
Eine Mischung aus Völkerball und Capture the Flag: Zwei Teams treten gegeneinander an, um den Gegner oder die eigene Flagge zu erobern. Schneewände werden errichtet, hinter denen die Teams Schutz suchen, stets auf der Hut vor Schneebällen, die ihnen auf den Kopf fliegen.
Die wichtigste Frage ist, wie man die Schneebälle aus dem Lager im hinteren Teil des Spielfelds zu den besten Werfern befördert. Die feinen Schneeklumpen zu transportieren ist keine leichte Aufgabe, doch wie Ameisen werfen die Teams sie ihre Linie entlang und legen sie ihren Kameraden zu Füßen.
Warnrufe hallen durch die Luft, während trickreiche Gegner hohe Schläge ausführen. Jubelrufe der Menge folgen jedem Ruf des Schiedsrichters, wenn er einen getroffenen Spieler ausruft. Kalter Wind wirbelt den Pulverschnee in die Gesichter der Kämpfer: Neblig und nass wischen sie sich den Schnee ab, um nicht getroffen zu werden. Kinder spielen am Spielfeldrand, ihre Eltern nehmen ebenfalls an diesem Zeitvertreib teil.
Heute schneit es extrem und der Boden ist mit einer dicken Schicht bedeckt. Lachen ist zu hören, Stöhnen von den Erschöpften, Jubelrufe von Verkäufern, die warme Getränke an diejenigen verkaufen möchten, die noch ihren Kater vom Vorabend auskurieren. Ein Gefühl von Normalität überkommt mich, und ich denke an die Sasa auf dem Berg, die wahrscheinlich im heutigen Schneesturm versunken sind. So sollte das Leben in Hokkaido aussehen.